„Ein Kind zu retten bedeutet, die Welt zu retten“

Fjodor Michailowitsch Dostojweskij (1821-1881), russischer Autor

Die Geschichte von Fyn, erzählt von seiner Mutter

Unser heute neunjähriger Fyn zeigte seit seiner Geburt Auffälligkeiten, anfangs nicht besorgniserregend, jedoch rückblickend immer von allem viel zu viel.
Die Schwangerschaft und die Geburt waren schwierig, bereits in der Schwanger-schaft zeigten sich viele Probleme, seit der 14. SSW litt die werdende Mutter immer wieder an Kontraktionen der Gebärmutter. Um die 20. SSW erlitt sie rezidivierende Synkopen, weshalb ein stationärer Krankenhausaufenthalt notwendig war. Die werdende Mutter erhielt ein Beschäftigungsverbot und
sollte jegliche Anstrengung vermeiden. Sie entwickelte starke Ödeme, so dass die Geburt einen Tag vor dem errechneten Termin eingeleitet wurde. Die Entbindung dauerte 26 Std. und endete in einem Kaiserschnitt. Die werdende Mutter kollabierte nach einer gesetzten PDA, es zeigte sich ein Sauerstoff- und Blutdruckabfall, welcher von der Hebamme zu spät erkannt wurde. Daraufhin
wurde entschieden, einen Kaiserschnitt durchzuführen.

Fyn kam mit einem Gewicht von 4220g und einem KU von 37 cm zur Welt. An der kindlichen Schläfe zeigte sich eine bläulich verfärbte Beule die darauf schließen lies, dass er sich nicht in das kleine Becken einstellen konnte. Das Kind schrie vom ersten Lebenstag an. Es schrie stundenlang und war nicht zu beruhigen.

Das Stillen klappte aufgrund fehlender Muttermilch nicht, so dass ab dem 5. Tag zugefüttert wurde und ab der 7. Woche abgestillt wurde. Schlafen konnte er nie alleine. Das Einschlafen dauerte oft mehrere Stunden und nur, wenn es sich in die Haare der Mutter eindrehen konnte. Schlafen im eigenen Bett war nicht möglich, er schlief über 3 Jahre nur bei den Eltern. Bei dem Versuch, ihn im eigenen Bett einschlafen zu lassen, schlug er mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe oder später, als es stehen konnte, lies er sich einfach nach hinten runterfallen. Aufgrund dieser Verletzungsgefahren schlief das Kind im elterlichen Bett.

Mit 3 Jahren bekam er einen kleinen Bruder, und er schlief, nach einem endlos langem Einschlafritual, im eigenen Bett ein. Es kam jedoch jede Nacht wieder zu den Eltern ins Bett.

Im Krabbelalter, mit ca. 6 Monaten, gab es für Fyn kein Halten mehr, er schob sich mit dem Gesäß permanent durch den Raum und konnte nie länger als wenige Minuten auf einer Stelle sitzen. Spielen gelang nie allein und er hatte kein Interesse an „typischem“ Kinderspielzeug.
Die Eltern hatten das Gefühl, dass er nie zufrieden war. Er war ständig unruhig, weinte und schrie viel. Es schlief immer nur wenige Stunden, wachte morgens um 5 Uhr auf und war direkt hochaktiv. Mit 10 Monaten krabbelte Fyn im Vierfüßlerstand und wenige Tage später zog er sich an Möbeln hoch und lief an diesen entlang. Mit 12 Monaten lief das Kind frei und konnte weder in einem Buggy noch mit einem anderen Fahrzeug auf einem Spaziergang gefahren werden. Er lief und lief und lief... jedoch nie auf dem Weg, sondern immer in irgendeine Richtung.

Er fing an, aggressive Verhaltensweisen zu zeigen. Er schrie immer noch viel und konnte sich nicht länger als wenige Minuten allein beschäftigen. Zuhause zeigte er regelmäßig ausgeprägte Wutanfälle. Die Eltern beschreiben diese, als würde man bei einer Lampe den Stecker ziehen. Die emotionale Verbindung zu ihm ging vollständig verloren. Diese Wutanfälle dauerten zwischen einer und drei Stunden. Danach war er nass geschwitzt.

Im Alter von 3 Jahren benannte er erstmals diese Auffälligkeiten, er nannte es
„ den Frosch in seinem Kopf “.

Die Eltern gingen zu ersten Mal zu einer Beratungsstelle. Es folgte eine Verhaltensherapie über 25 Stunden, welche mehr schlecht als recht funktionierte. Das Kind war aus heutiger Sicht betrachtet noch viel zu jung, aber nichts tun war auch keine Lösung.

Fyn hatte immer eine besondere Fähigkeit, andere Menschen um den Finger zu wickeln. Durch die sehr offene Art und das gute Sprachverständnis knüpfte er sehr schnell Kontakte, vor allem zu Erwachsenen. Als Erwachsener hatte man den Eindruck, dieses Kind sei schon besonders reif.

Die Auffälligkeiten zeigte er bis dahin nur zuhause, in seinem vertrauten Umfeld. Er ließ sich nie begrenzen, auch nicht von der Psychotherapeutin.
Während er die Therapiestunde besuchte, ging die Mutter draußen spazieren.
Als er eines Tages jedoch plötzlich die Mutter suchte, rannte er einfach raus und lief auf die Straße um die Mutter zu finden. Die Psychotherapeutin stand hilflos und frierend daneben.

Nach Beendigung dieser recht fragwürdigen Therapie, versuchten wir Eltern noch ohne fremde Hilfe ihr Kind zu unterstützen. Es war inzwischen im Kindergarten, zeigte dort so gut wie keine Auffälligkeiten. Zuhause spitzte sich die Situation jedoch weiter zu. Freunde einzuladen gestaltete sich immer sehr
schwierig, er kommandierte jeden herum, ließ andere Kinder nicht mit den eigenen Sachen spielen und brachte durch sehr lautes Artikulieren zum Ausdruck, wenn etwas nicht gefiel. Sprechen konnte er außergewöhnlich gut, er hatte einen sehr großen Wortschatz, welcher jedoch schnell mit Fäkalinhalten und Schimpfwörtern erweitert wurde. Die Erzieherinnen bemerkten keine Auffälligkeiten, das Kind war nicht aggressiv oder zeigte Fehlverhalten –im Kindergarten. Es war nur oftmals sehr laut und sprach viel. Echte Freundschaften konnte Fyn nie schließen.

Er entwickelte Zwänge. Kein Familienmitglied konnte den Raum oder das Haus verlassen, ohne dass er mitging oder zumindest eine intensive Abschieds-zeremonie von ca. 20 min. mit küssen und umarmen gestaltete. Fyn suchte intensive Nähe mit viel Kuscheleinheiten und teils bedrängenden Umarmungen. Kurze Zeit später wurde er jedoch aus einem nichtigen Grund heraus wieder so aggressiv, dass es den Eltern das Gesicht zerkratzte.

Diese unkontrollierten Gefühlsausbrüche führten uns mit Fyn kurz vor der Einschulung nochmals in eine kinder- und jugendpsychiatrische Praxis.
Für die Eltern war klar, diesem Jungen fehlt etwas. Es geht diesem Kind nicht gut. Es läuft auf einem ganz schmalen Pfad. Sobald es auch nur ein wenig ins
Wanken gerät, kippt die Stimmung, entweder ins aggressive oder ins albern- euphorische, beides war nicht mehr zu kontrollieren.

Die Zwänge verstärkten sich zunehmend, Fingernägel kauen, Augenzwinkern, Kopf schütteln, später massives Räuspern und Laute ausstoßend in Verbindung mit Zuckungen am ganzen Körper. Auch in dieser Praxis hielt man die Eltern für Überbehütende. Fyn sei doch normal entwickelt und in der Testung unauffällig. Trotzdem, zur Beruhigung der Eltern, könnte eine Therapie 1x im Monat durchgeführt werden.

Der erste Therapeut kam und ging wenige Wochen später, das Kind hatte sich gerade an ihn gewöhnt. Die nächste Therapeutin kam. Diese hatte zumindest ein bisschen mehr Verständnis für die Situation und ließ sich auf das Thema Ritalin ein. Wir Eltern waren zwischenzeitlich nur noch ein Schatten unserer selbst, so dass irgendein Mittel verabreicht werden musste.

Den Eltern und dem Jungen ging es schlecht, es musste irgendetwas geschehen. Eine Diagnose gab es jedoch noch immer nicht. Die Wutanfälle häuften sich und Fyn sollte doch in Kürze eingeschult werden. Auch im sozialen Umfeld entstanden Schwierigkeiten. Besuch konnte abends nicht empfangen werden, weil Fyn dann nie ins Bett ging. Er musste aufbleiben, bis alle weg waren. Andere zu besuchen war ein Kampf, da sich die Erwachsenen nie in Ruhe unterhalten konnten. Er musste immer Mittelpunkt des Gespräches stehen. Wenn er nicht die entsprechende Aufmerksamkeit erhielt, wurde er verbal ausfallend. Zu diesem Zeitpunkt zeigten sich die Auffälligkeiten nicht mehr
nur im häuslichen Umfeld.

Einige Kontakte gingen verloren, in der eigenen Familie entstanden Streitsitu-ationen, weil dieses Verhalten auf eine fehlerhafte Erziehung zurückgeführt wurde. Wir Eltern hatten alle Erziehungsstile ausprobiert, uns aus allen Richtungen Hilfe geholt, doch nichts führte auch nur ansatzweise zu einem gewünschten Erfolg.

Fyn wurde also kurz vor Beginn der Sommerferien auf Ritalin eingestellt.
Kurzzeitig hatten die Eltern das Gefühl, die Verbindung zum Kind sei dadurch konstanter. Jedoch zeigte sich schnell, dass dies nicht von Dauer war. Alle 6-8 Wochen wurde an der Medikation etwas geändert. Sie wurde höher dosiert oder das Präparat gewechselt. Das Verhalten änderte sich jedoch nicht.

Es wurden Kurse belegt. Sozialkompetenzgruppe, Elterntraining... alles schön und gut. Bewirkt hat das jedoch nichts. Die ersten 2 Schuljahre verliefen ohne besorgniserregende Vorkommnisse. Freunde hatte Fyn immer noch nicht. Bekannte Kinder, mit denen mal gespielt wurde. Aber ein echter, richtiger Freund fehlte.

Er zeigte zwar häufig grenzwertiges Verhalten und konnte sich nur schwer den Klassenregeln anpassen, jedoch zeigte er zumindest in der Schule bis dahin keine Aggressionen.

Schulisch brachte er sehr gute Leistungen. Aber sobald er aus der Schule nach Hause kam, explodierte er. Der ganze angestaute Druck der Schule wurde entladen, Wutanfälle mit Schreiphasen von mehreren Stunden. Er schmiss sich auf den Boden, schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Eine dauerhafte Unruhe bestand bis zum Einschlafen, welches noch immer mindestens 1 Stunde dauerte, teils noch länger.

Die Psychotherapiestunden waren erfüllt. Es musste wieder ein neuer Antrag gestellt werden. Die inzwischen nochmals gewechselte Therapeutin empfahl den Eltern, einen neuen Therapeuten zu suchen. Eine wöchentliche Therapie erschien sinnvoll. Zudem wurde erstmals über einen Klinikaufenthalt nachgedacht. Also wechselte man zum 5. Therapeuten innerhalb von 4 Jahren.
Ein wöchentlicher Rhythmus erschien sinnvoll. Die Medikation wurde weiter aufrechterhalten.

Immer wieder wurde Kontakt zum Psychiater aufgenommen, mit der Bitte, noch weitere Behandlungsmöglichkeiten auszuprobieren. Es wurde immer wieder der Gang in die Klinik oder der Wechsel auf ein stärkeres Medikament, nämlich Risperidon, empfohlen, bei dem „ein plötzlich auftretendes hohes Fieber mit tödlich endendem Verlauf „ nur als eine Nebenwirkung beschrieben wurde...
Wir entschieden uns gegen dieses Medikament.

Fyn wurde zunehmend depressiv und aggressiver. In der Schule prügelte er sich fast täglich, lies sich extrem schnell provozieren und zuhause äußerte er suizidale Gedanken. Er drohte, aus dem Fenster oder von der Galerie zu springen. Es äußerte fast täglich, wie schlecht es sei, keiner würde ihn mögen, alle fänden ihn scheiße: „ Ihr seid doch eh alle froh, wenn ich endlich weg bin“
... war ein Satz, der fast täglich fiel.

Die Klassenlehrerin schien mit der Situation gänzlich überfordert, womit der Ärger in der Schule seinen Lauf nahm. Kein Mensch kann sich vorstellen, was die Eltern in dieser Zeit durchgemacht haben. Das Kind suizidgefährdet und die Schule teils vorwurfsvoll und einfach überfordert; der Therapeut ratlos und der Psychiater hatte nur seinen Rezeptblock...

Als letzter Ausweg schien der im Rahmen langer Internetrecherchen gefundene Privatarzt Dr. Gahlen, welcher u.a. mit einer Stoffwechselanalyse vielleicht endlich Licht ins Dunkel bringen könnte. Zu diesem Zeitpunkt war Fyn sehr dünn, blass, zeigte dunkle Augenringe. Er wirkte wie getrieben, zeigte schwerste Zwänge. Das Einschlafen dauerte 2 Stunden, wobei ein Elternteil anwesend sein musste. Er war extrem aggressiv und depressiv, die emotionale Verbindung war nicht mehr gegeben. Er beleidigte und beschimpfte uns Eltern, wollte ständig von Zuhause weglaufen.

Ein Termin bei Dr. Gahlen wurde vereinbart. Im Wartezimmer sitzend, kam ein Mann auf die Eltern und das Kind zu. „ Du bist mein Patient“ sagte er zu Fyn, „aber zuerst spreche ich mit deiner Mama“. Ich erzählte über eine Stunde die gesamte Leidensgeschichte und fühlte mich das erste Mal in den vergangenen
9 Jahren verstanden. Dr. Gahlen vollendete die Sätze, welche ich begann zu sprechen. Öfters schüttelte er verständnislos den Kopf und sagte dann: „ich weiß, was bei Ihrem Kind auf einer biochemischen Ebene falsch läuft.
Ich gebe Ihnen heute aufgrund der „Notsituation“, noch ohne Laborergebnisse abzuwarten, eine körpereigene Aminosäure mit, für den Rest warten wir die Ergebnisse ab.“

Nach einer ausführlichen Untersuchung des Kindes, einer Blutabnahme, sowie einer Speichel-, Urin- und Stuhlprobe, warteten die Eltern ca. 2 Wochen auf die Laborergebnisse.

Die Diagnosen lauteten daraufhin: schwere Störung der Neuroendokrinen Stressachse in Verbindung mit essentiellen Vitalstoffmängeln, Störung des Kohlenhydratstoffwechsels.

Im Detail bedeutet das: es lagen dauerhaft erhöhte Neurotransmitter vor oder auch Stresshormone, die Fyn nur so vor ihm selbst hertrieben……und es lag nicht an ihm, seiner eigenen Perönlichkeit.

Die Medikation wurde vervollständigt durch verschiedene Vitamine und Mineralstoffe.

Fyn schlief, nach dem Besuch bei Dr. Gahlen, nach zweimaliger Einnahme der Aminosäure vor dem Zubettgehen innerhalb von 10 Minuten ein.

Nach einer Woche zeigte sich eine deutliche Abnahme der Unruhezustände.
Mit Beginn einer gut durchführbaren Ernährungsumstellung und Substitution sämtlicher verlustigen Vitamine und Mineralstoffe konnte Fyn innerhalb weniger Wochen eine drastische Verbesserung des Allgemein- und Gesundheitszustandes erzielen. Die depressiven Phasen verschwanden komplett, die aggressiven Wutausbrüche reduzierten sich fast vollständig, nach 3 Monaten gab es keine Aggressionen mehr. Das Verhalten in der Schule normalisierte sich, von den Lehrern wahrgenommen. Die emotionale Verbindung, welche immer fehlte, war dauerhaft gegeben. Fyn nahm an Gewicht zu, er strahlte, war fröhlich.

Und er sagte: „Danke Dr. Gahlen, Sie haben mir ein neues Leben geschenkt!“